Tag 26: In der Zwischenschicht

Die Kehrseite: Ivans Familie muss sich einsperren, weil Gewalt, Kriminalität und Drogen ihr Leben bedrohen. Denn die Konsummentalität hat dazu geführt, dass diejenigen, die nicht genug haben, es sich bei Leuten wie Ivan holen wollen. Und weil Crack sich im ganzen Land wie eine Seuche ausgebreitet hat, haben sie keinerlei Hemmungen mehr, es sich rigoros zu nehmen. Zwei junge Crackäbhängige haben ihn in seinem Auto schon überfallen. Sie wollten sein Geld, seine Uhr und sein Handy. Alles, was sie schnell zu Drogen machen konnten.

So sehr ihn dieser Überfall erschüttert hat: Für Ivan ist er eine logische Folge dessen, was in einem Land vor sich geht, in dem die Spaltung zwischen Reichen und Armen immer größer wird, sie aber gleichzeitig in direkter Nachbarschaft leben. Auch neben seiner Wohnanlage liegen mehrere Favelas. „Wer nichts hat, will haben. Und wenn er haben will und nicht haben kann, wird er klauen“, sagt Ivan. Jeder Crackabhängige wird da zum potentiellen Angreifer und ist er nur elf, zwölf Jahre alt. Sogar sein jüngster Sohn Antonio hat bereits genug davon. Mit seinen zwölf Jahren hat er erkannt, dass er hier seiner Kindheit beraubt wird. „Der Brasilianer baut Schlösser. Wir schlössern uns ein, indem wir Festungen bauen, um zu leben“, klagt Ivan. Er findet, dass Familien wie seine zu Unrecht die Konsequenzen der brasilianischen Biographie zu tragen haben:

Während sich die Schuldigen immer mehr von der Außenwelt abschirmen, ist Ivan mit der Armut jeden Tag konfrontiert. Er fühlt sich schuldig, etwas zu haben. Er hat diese Wohnung, einen anerkannten Job und drei Kinder, die eine gute Schule besuchen. Und er hat den Anspruch, sich und seiner Familie ein ruhiges und unbeschwertes Leben zu ermöglichen. Doch um all das halten zu können, bräuchte er fast zwei Drittel mehr als seine Frau und er zusammen verdienen. Die Vilelas haben entschieden, daraus ihre Konsequenzen zu ziehen: Sie werden die Stadt verlassen und ins Landesinnere ziehen. Auch wenn er weiß, dass ihm dann wieder vieles vermissen wird, was ihm in São Paulo trotz allem lieb geworden ist.

Sein Leben steckt in einem Zwiespalt zwischen Tradition und Moderne, zwischen Land und Stadt, zwischen Fröhlichkeit und Traurigkeit. Und es ist die Viola, mit der er versucht, diesen Zwiespalt zu lösen. Dann, wenn sich ihre Weichheit mit den stählernen Klängen vermischt, entsteht ein Gefühl, das die Brasilianer „Saudade“ nennen. Es gibt dafür keine direkte Übersetzung. Es ist ein Zustand, in dem Sehnsucht, Nostalgie und eine tiefe Zufriedenheit zusammenkommen. Am treffendsten wäre vielleicht noch mit „positiver Melancholie“ beschrieben, die entsteht, wenn man im Hier und Heute leben, aber seine Wurzeln nicht vergessen möchte. Und deshalb ist die Viola Caipira seine Verbündete, um die brasilianische Gesellschaft zu kurieren: